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MATHIAS KNAUER

Locarno 2003 : Fülle statt Masse


NB: Unter der neuen Direktion von Frédéric Maire ist vieles, was hier moniert wurde, behoben, namentlich ist die Zahl der Filme deutlich reduziert worden. Die meisten nachfolgenden Gedankengänge treffen aber nach wie vor aktuelle Probleme dieses wie vieler anderer Festivals.

Vielleicht hat die große Hitze das alte Malaise dies Jahr verstärkt hervortreten lassen und uns den Blick geschärft für einen seit Jahren gefährlich wuchernden Prozeß. Das Locarneser Festival hat sich - und wir hoffen: nicht unrettbar - vom schillernden Kulturereignis zur kaum noch überblickbaren Maschinerie entwickelt. Seit Jahren haben wir damit gelebt, jetzt aber beginnt das Angeschwollene ins Faulige zu kippen.

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Was ist ein Festival? Filmliebhaber, die Filmkritik und Filmautoren reisen an einen Ort, zeigen sich Filme und stellen sie zur Diskussion: das ist der künstlerische Aspekt. Filmhändler und Verleiher suchen bei dieser Gelegenheit Filme aus und testen deren kommerziellen Gehalt: das ist der merkantile Teil einer im Idealfall produktiven Symbiose.
In Locarno hat man dies Jahr noch einmal mehr Filme in noch einmal mehr Sektionen gezeigt, und nun beginnen es alle zu spüren: das ist nicht mehr Fülle, sondern Masse; der vom Bund stark unterstützte Anlass wird für unsere Filmkultur kontraproduktiv. Denn ein Festival kann nicht beliebig ausgebaut werden. Das Zeitbudget aller Akteure ist beschränkt, und spielt man, aus Gefälligkeit oder Unentschiedenheit, zu viele Filme, schadet dies den wenigen, die eine Auseinandersetzung lohnen. 

Auch wenn wir Cinéphilen seit Jahren gewohnt sind, unser Programm uns quer durch die Nebensektionen zusammenzusuchen - so schwierig wie dies Jahr schien es mir noch nie. Denn wie soll man unter über 500 gezeigten Filmen das Werthaltige erkennen können, da die Auswahl der einzelnen Reihen keine wertsetzende Linien erkennen lässt und der Festivalkatalog doch nur die Pressetexte der Produzenten wiedergibt und - ein Wälzer - ohnehin nicht mitgetragen werden kann.

Kreuzten sich dies Jahr meine Wege mit jenen von Freunden der schreibenden oder filmenden Zunft, vom einen Saal zum andern eilend, dürstend danach, etwas zu entdecken, was nicht nur an Stoff oder Manier interessant, sondern ein künstlerisch herausforderndes Werk wäre - kaum mehr ergab sich der Zufall, dass beide den gleichen Film gesehen hatten. Statt also über Kontroverses, Gewagtes oder die paar im Programm versteckten Werke von Bestand reden und streiten zu können, blieb einem das Witzeln über den allabendlich auf der Piazza vorgesetzten Kostümfilm, Thriller oder Schwank. Wie soll so Kommunikation entstehen und den Filmen Resonanz wachsen? 

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Dies Jahr wurden eine Reihe kubanischer Filmemacher, Leute der Filmschule und des kubanischen Filminstituts eingeladen, um neuere Arbeiten zu zeigen und Kontakte mit europäischen Partnerproduzenten zu finden. Die Schweizer Entwicklungshilfe (Deza) hat für diese und weitere Aktionen in Locarno mehr als eine halbe Million investiert. Doch die Kubaner blieben unter sich, das Programm am frühen Morgen marginal, kein Film fand auf die Piazza und damit zur grossen Öffentlichkeit, nach der die wichtige und gutgemeinte Deza-Aktion ja strebt. Als Fördereffekt dieses Bundesgelds bleibt somit die neuerliche Aufblähung des Locarneser Budgets und damit die inflationäre Expansion des ohnehin schon überbordenden Betriebs. Eine Retrospektive von Filmen rund um den Jazz; ein Haufen Filme (der Katalog hat sie nicht einmal alphabetisch aufgelistet) zum Thema Menschenrechte; eine Kurzfilmretrospektive skandinavischer Nachwuchstalente, eine lieblos inszenierte Hommage an Alexander J. Seiler... wer soll dies alles sehen?

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Im Locarneser Bazar leistet noch Widerstand die schon von früheren Festivaldirektionen wenig geliebte "Semaine de la critique". Sie konnte dies Jahr die Uraufführung von Peter Liechtis "Hans im Glück" zeigen. Wieder eine ganz originäre Arbeit, anrührend, von grosser Bildkraft und umfassender Musikalität. Doch von diesem Ereignis abgesehen blieb der Schweizer Film eher glücklos. Für Richard Dindos "Ni olvido ni perdón" - auch eine Weltpremiere - fand Direktorin Bignardi gerade noch ein Minisälchen. 

Die Schweizer Filme, die das Filmzentrum in Locarno ins Schaufenster stellen darf, erreichten - Ungebärdiges und Experimentelles ist in unserem Filmschaffen derzeit verpönt - mit Biederem und Bewährtem vorab ein zahlreiches einheimisches Publikum. Das aber ist nicht der Zweck dieser Übung: müsste es doch darum gehen, unser Schaffen, soweit es von künstlerischem, und damit internationalem Zuschnitt ist, der ausländischen Kritik bekanntzumachen. 

Wenn nun also der künstlerische Austausch, das Gespräch mehr und mehr versiegt, bleibt zurück nur das touristische Event. Und dafür sollten uns die wenigen Kulturgelder, über die wir verfügen, zu wertvoll sein.


(St.Galler Tagblatt, August 2003)

 


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